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Ich habe sie fortgeschickt, irgendwohin

Aus dem Albanischen von Loreta Schillock

Virion GRAҪI

Diejenigen, die nach Fatmira suchten, waren drei Frauen. Sie wollten ihre Adresse in Erfahrung bringen. Ihnen wurde gesagt, dass es sich um eine kleine Wohnung im neuen Wohnblock handelt. Sie beschlossen sie aufzusuchen, ohne sich erst anzumelden. Wegen einer anderen Angelegenheit befanden sie sich in ihrer Stadt und dachten sich… warum sollen wir sie denn nicht besuchen… wer weiß, in wie vielen Jahren der Zufall uns wieder hierher führt… Sie hatten einmal gehört, flüchtig, dass Fatmira und Artan, nach langen Jahren der Ehe letztendlich doch noch ein Kind bekommen hatten. Sie wünschten sich sehnsüchtig Kinder, zumindest eines. Sie hatten namhafte Kliniken aufgesucht, all ihr Erspartes von Monaten und Jahren hatten sie hineingesteckt, in kurzer Zeit, in Beratungsgespräche und Präparate aus der Apotheke, um Hoffnung zu hegen. Als schließlich schon jegliche Hoffnung erloschen war, lachte auch sie das Schicksal an.

„Der Junge muss jetzt vier Jahre alt sein“, sagte eine der Frauen und verfolgte den roten Pfeil, der Ankunft des Aufzugs signalisiert.

„Ja, drei oder vier“, sagte die andere unsicher, während sie den Gurt der Tasche in den Händen drehte.

„Ich habe seit sechs Jahren keinen Kontakt mehr zu ihnen“, sagte die dritte Frau, als sich die Aufzugtür öffnete.

„Ich auch nicht“, sagte die Frau, die zuerst sprach.

Sie warteten etwas. Niemand sonst wollte mit dem Aufzug fahren. Die Frau, die mit dem Taschengurt spielte, drückte auf den Knopf mit Nummer vier. Der Aufzug bewegte sich in Richtung der Etage, in der sich die kleine Wohnung befand…

Fatmira war ihre Zimmergenossin im Wohnheim der Mittelschule. Im letzten Schuljahr war sie bereits mit Artan verlobt und riskierte somit, von der Schule verwiesen zu werden. Ein paar Monate später heirateten sie, viele Hochzeitsgäste hatten sie nicht eingeladen. Elf unangenehme Stunden verbrachten sie in teuren Hochzeitskleidern. Elf Jahre waren vergangen, bis sie schließlich ein Kind bekamen.

Die drei Zimmergenossinnen hatten Fatmira zuletzt getroffen, als sie sich in dieser Stadt niedergelassen hatte, in der Artan eine Stelle in seinem Beruf gefunden hatte. Die drei reisen oft zusammen, veranstalten gemeinsam Festmahle und Partys. Einmal hatten sie auch an Fatmira gedacht, hatten in ihrer Arbeitsstelle angerufen. Das Sekretariat hatte sie mit Fatmira verbunden. Sie erkannten ihre Stimme kaum wieder, sie klang gebrochen, wie erstickt. Die ehemaligen Schulfreundinnen hatten sich in dem kurzen Telefongespräch flüchtig an eine humorvolle Geschichte aus den früheren Zeiten erinnert. Fatmira sprang fröhlich auf.

„Wie schön, wie schön. Wenn ihr Zeit habt, kommt vorbei. Auch Artan wird sich freuen. Lasst uns an diese schönen Jahre erinnern.“

Sie hatten sie besucht. Der Weg hatte sie erschöpft, aber der Abend war ausgezeichnet verlaufen. Artan war ganz derselbe: fröhlich und spontan, humorvoll. Ein paar Tage später verlor Fatmira ihre Arbeitsstelle. Nach mehreren vergeblichen Anrufen bei ihrer Firma hatten die Freundinnen den Kontakt zu ihr verloren.

Der Aufzug hielt. Die Tür öffnet sich. Die Frauen gehen hinaus, die Namenschilder auf jener Etage inspizierend. Schnell fanden sie die Tür, an der Artan Kodra geschrieben stand. Sie läuteten. Die Tür wurde geöffnet. Fatmira. Blass, mageres Gesicht. Das Lächeln und die Freude, die der plötzliche Besuch ihrer ehemaligen Freundinnen hervorrief, schienen die offensichtliche Müdigkeit und Starre aus ihrem Gesicht zu vertreiben.


Es war der zweite Sommer, in dem Fatmira den Ferienort auswählte. Sie hatten ein Privathaus am Meer gefunden. Die Wellen reichten bis an sein Fundament. Artan erschien es zu teuer. Fatmira hatte ihm jedoch widersprochen.

„Lass es kosten, was es wolle. Das ist es wert. Wir haben nur einen Sohn, für wen arbeiten wir denn?!“

Artan hatte akzeptiert. So wie gewöhnlich. Fatmira schlug etwas vor und beharrte darauf, was Artan klaglos und ohne Widerspruch zustimmte. So ließen sie sich in diesem schönen Ferienhaus nieder, dessen Veranda sich zum Meer hin erstreckte. Dort kochten sie, dort deckten sie den Tisch, dort auf der Veranda tranken sie nachmittags Kaffee. Dort saßen sie frühmorgens mit dem kleinen vierjährigen Ben.

„Die gesunde jodhaltige Luft tut dem Jungen gut“, argumentierte Fatmira. Artan kannte das Meer fast gar nicht. Er hatte eine unglückliche Kindheit voller Armut und Entbehrungen verbracht. Während der Schulferien arbeitete er, um seine Familie zu unterstützen. Die wenigen freien Tage verbrachte er bei seinen Großeltern in einem Bergdorf mit Kiefern, Quellen und kühler, erfrischender Luft. Er konnte nicht gut schwimmen. Er hielt sich überwiegend im seichten Wasser auf, nur mit Mühe konnte er 10-15 Meter schwimmend zurücklegen.

Die erwachsenen Töchter einer Familie, die in der Nähe Urlaub machten, hatten sich mit Ben, dem vierjährigen Jungen, angefreundet. Sie spielten mit ihm, küssten ihn, nahmen ihn in den Arm, hielten ihn an den Händen und reichten ihn sich gegenseitig. Sie nahmen ihn sogar mit aufs Meer, wenn sie in einem kleinen Schlauchboot rausfuhren. Sie wuschen ihn nackt, steckten ihn in den hintersten Teil des Bootes und alle lachten bei jeder seiner Bewegungen und Aktionen.

„Kann Ben mit uns kommen“, fragten die Mädchen Onkel[1] Artan um Erlaubnis. Dieser schaute Fatmira fragend an. Kopfschüttelnd[2] deutete sie an, dass sie zustimmte, ihr Sohn dürfte mit ihnen gehen.

Fatmira verweilte auf der Veranda, als die Mädchen zu schreien begannen. Zwei Jungen, auf einem Motorboot, waren mit höllischer Geschwindigkeit auf das Schlauchboot zugerast und hatten es seitlich getroffen. Sie spotteten über die Ängste der Mädchen; je mehr sie schrien, desto heftiger attackierten sie ihr Boot, übermütig lachend.

„Unser Sohn, Artan, unser Sohn, unser Sohn, unser Sohn…“, kreischte Fatmira.

Das Boot war gekentert. Die Jungen entfernten sich siegreich, die Mädchen schwammen ans Ufer. Der kleine Ben versank, um bestimmt nie wieder an die Oberfläche zu kommen. An unseren Stränden gibt es keine Strandwächter, von Rettungsfahrzeugen kann schon gar nicht die Rede sein.

Artan schwamm zu dem Jungen. Schwungvoll ruderte er mit den Armen. Er tauchte hinab in die Tiefe. Irgendwo war sein Sohn, so hilflos, ganz nackt, zusammengekauert. Dieses Bild erschien Artan plötzlich. Vielleicht entsprang es dem Gedächtnis. Vielleicht erinnerte er sich an den Moment, als er auf dem Ultraschallbildschirm in der Frauenklinik zum ersten Mal seinen Sohn sah, sein zukünftiges Kind, geduckt zusammengekrümmt, wie ein Fisch im Aquarium planschend in Fatmiras Fruchtwasser.

„Schau mal an, es ist ein makelloses, gesundes Kind“, sagte der Arzt, der ihm behilflich war, in den Ultraschallbildern das Kind zu erkennen. „Schau da, das Herz, mit allen vier Kammern arbeitet wunderbar. Da, die Stirn, hier, jetzt öffnet er den Mund, jetzt legt er die Hände auf den Kopf. Siehst du?!“

„Ich sehe, ich sehe ihn“, sprachen sie gleichzeitig: die auf dem Untersuchungsbett liegende Fatmira und Artan, neben dem Arzt stehend.

„Jetzt hat er seine Beine ans Kinn gezogen und macht eine halbe Rolle vorwärts.“

„Oh ja“, antwortete Fatmira und brach in Tränen aus. „Endlich ist er da, hier ist er, mein Sohn.“

Artan bemühte sich durch das salzige Meerwasser hinabzusehen. Nichts. Seine Kräfte ließen nach. Als schlechter Schwimmer blieb ihm nichts anderes übrig, als bis dorthin zu tauchen, wo die Tiefe zu groß wurde. Er akzeptierte seinen Untergang, die endgültige Loslösung vom Ufer, von den Menschen, die auf der Erde lebten. Selbst wenn er diese monströsen Wassermassen überwinden konnte, selbst wenn er an die Oberfläche kommen konnte und zurück ans Ufer gelangen konnte, schien ihm dies alles aussichtslos, die schlimmste Rolle, die er seit vielen Jahren spielen musste…

„Was soll ich tun… da… jetzt… ich…“, dachte Artan. Er hatte zur Genüge Wasser geschluckt, die letzten Luftreste brannten in seiner Lunge, seine Augen brannten, aber er schloss sie nicht. Er hoffte immer noch, irgendwo in den Weiten dieses unendlichen Wassers seinen kleinen Ben entdecken zu können. Nichts, nichts. Er kämpfte, starb unter diesem unerträglichen Gewicht des Salzwassers, mit seinen Gedanken beim Besuch des Gynäkologen, als sie zum ersten Mal ihr einziges Kind sahen, vollständig und wohlgeformt, wie es sich in Fatmiras Bauch bewegte, sich glücklich schaukelte und drehte.


Die Freundinnen blieben zum Mittagessen. Fatmira war allein. Sie sprachen über dieses und jenes [eröffneten alle möglichen Gespräche]. Verständlich, nach den vielen Jahren, die sie sich nicht getroffen hatten, den vielen Jahren ohne jegliche Art von Kommunikation. Nach dem Mittagessen aßen sie Obst. Nach dem Obst sahen sie sich Bilder an. Fatmira zögerte nicht, ihnen Erklärungen zu geben. Sie [beeilte sich] achtete darauf, ihre Pflichten als Hausfrau zu erfüllen. Die Fotos waren auf der Rückseite beschriftet, handgeschrieben, wer die fotografierten Personen waren, wo und wann sie fotografiert wurden. Die meisten Fotos waren von Ben. Sie hatten fast jeden Tag und jede Woche Bilder von ihm gemacht, mit lustigen Notizen auf der Rückseite eines jeden einzelnen.

Sie brachen auf. Sie standen vor der Aufzugstür. Der rote Pfeil zeigte an, dass sie etwas warten mussten. Sie warteten darauf, dass der Aufzug freigegeben wurde, um dann den Knopf zu drücken, um ihn zum Dienst zu rufen, um einzusteigen. Er kam, er kam endlich. Die Freundinnen umarmten Fatmira herzlich. Die Aufzugstür öffnete sich.

„Es hat uns sehr gefallen“, sagte einer der Freundinnen.

„Es hat uns gefallen“, ergänzte die andere, „aber wenn Ben und Artan hier gewesen wären, hätten wir mehr Freude gehabt.“

„Das stimmt“, sagte die dritte, „wir hätten uns noch mehr gefreut.”

„Ich habe es euch doch gesagt“, wiederholte Fatmira, „sie sind heute nicht hier. Ich habe sie irgendwohin, fortgeschickt.“

„Jedenfalls, es hat uns gefreut.“

„Oh, ja, wir haben uns einander gefehlt.“

Sie verabschiedeten sich noch einmal. Die Freundinnen betraten den Aufzug. Die Tür schloss sich. Der Aufzug führte sie hinab. Fatmira eilte zurück in ihre Wohnung, schloss die Wohnungstür von innen ab und brach in Tränen und Schreie aus wie nie zuvor in ihrem Leben.

[1] Bezeichnung für unbekannte männliche ältere Personen in Albanien.

[2] An dieser Stelle muss auf den kulturellen Unterschied hingewiesen werden: Kopfschüttelnd hat dieselbe Bedeutung in Albanien wie Kopfnickend in Deutschland.

Autori
Virion Graçi